Das Zivilprozessrecht in Europa befindet sich in einem schnellen Umbruch; Harmonisierung der Verfahrensrechte der Mitgliedstaaten wird durch Rechtssetzungsakte der Europäischen Union und durch Anpassungs- und Modernisierungsmaßnahmen angeregt, zum Teil erzwungen.
Die nationalen Rechtssysteme sind allerdings, EU zum Trotz, und trotz der Zugehörigkeit der europäischen Rechtsordnungen zur romanischen Rechtsfamilie, noch sehr unterschiedlich.
Es wäre unmöglich, auführlich auf den italienischen Zivilprozess (mit allen Sonderverfahren) und auf die (relevanten) Unterschiede zum deutschem Zivilprozess einzugehen; es folgen somit lediglich einige Informationen über den Verlauf eines Zivilprozesses in Italien, sowie unser Versuch, typische Fragen dazu beantworten.
Der italienische Zivilprozess ist insbesondere seit je her das Sorgenkind der italienischen Justizund ein negativer Wettbewerbsfaktor für die italienische Volkswirtschaft, da eine funktionsfähige Ziviljustiz sicher eines der Criterium ist, das im internationalen Vergleich für einen Standort spricht.
Laut der Neue Zürcher Zeitung herrsche in Italien ein "Justizwesen wie in Gabon" (online Ausgabe vom 10. März 2011): "Ein Bleigewicht stellt auch das Justizwesen dar. Ein Rechtsverfahren zur Durchsetzung einer Zahlungsforderung beansprucht im Durchschnitt 1210 Tage und damit dreimal so lange wie im OECD-Durchschnitt. Und nach Vergleichsdaten der Weltbank für 2009 arbeitet die italienische Justiz noch langsamer als jene in Ländern wie Gabon oder Guinea-Bissau. Allein Zivilprozesse vor der ersten Instanz beanspruchen normalerweise 1000 Tage."
Der italienische Gesetzgeber versucht immer wieder, den Zivilprozess zu reformieren: die Reformen habem allerdings nicht nur das Ziel nicht erreicht, sondern erschweren mitunter sogar die Prozessführung. So z.B. das 2015 eingeführte Mediationsverfahren, welches in einigen Fällen zwingend vorgesehen ist (Wohnungseigentumsstreitigkeiten, Mietsachen, dinglichen Rechten, und Nachbarstreitigkeiten) aber selten zu einer Einigung führt.
Positiv hat sich hingegen die Einführung eines beschleunigten Verfahrens ("summarisches Verfahren") ausgewirkt.
Der deutsche Mandant (wie der deutsche Kollege), der Gelegenheit hat, einen italienischen Zivilprozess aus der Nähe zu verfolgen, darf sich allerdings heute noch wundern. Er erlebt eine Reihe von Sitzungen, die mit den mündlichen Verhandlungen im Sinne der deutschen ZPO wenig gemein haben und keinem erkennbaren Zweck dienen.
Der Richter ruft in einer normalerweise chaotischen Atmosphäre, die von der Anwesenheit sämtlicher Prozessvertreter und der Parteien aller für den diesen Tag anberaumten Rechtssachen geprägt ist, einen "rinvio" (Vertagung) in die Menge, der nächsten Sitzung, welche Montate später stattfindet, ergeht es ebenso.
Seit der Informatisierung des Zivilprozesses (so. "telematischer Prozess"), werden allerdings Eingaben der Anwälte und Verfügungen des Richters per verschlüsselter Email eingereicht bzw. bekanntgegeben; das Verhandlungsprotokoll, welches bis vor kurzem von den Anwälten direkt handschriftlich in die Gerichtsakte verfasst wurde, wird nun vom Richter selbst am Computer geschrieben (und aus der Gerichtsakte sind die oft unleserlichen handschriftlichen Aufzeichnungen verschwunden).
Bei der X-ten, von der Zivilprozessordnung zwingend vorgesehenen Vertagung, wird die Sache dann doch (verständich) verhandelt; der Richter stellt den Zeugen Fragen, die gesetzlich vorgegebenen Fristen vergehen, es folgt, im 3. oder 4. Prozessjahr, die Entscheidung.
Es foglt die Berufung, dann das Kassationsverfahren in Rom.
Allerdings: es ist aus der unterschiedlichen durchschnittlichen Prozessdauer der italienischen Landgerichte ersichtlich, daß die italienische Ziviljustiz nicht immer diesem Modell entspricht.
Genau Gerichte wie Trient, Rovereto und Bozen - denen man noch die Segnungen der habsburgerischen Verwaltung nachsagt - entsprechen in Sache Prozessdauer dem europäischen Durchschnitt. Gerichte in Venedig, Messina und Reggio Calabria benötigen im Schnitt für eine Instanz bis zu 2000 Tage, aber auch Industriestädte wie Mailand und Turin entsprechen mit einer durchschnittlichen Prozessdauer von ca. 900 Tagen nicht den Anforderungen eines modernen Rechtsstaates.
Die Zeitreihe der anhängigen Zivilsachen zeigt allerdings neuesten einen Abwärtstrend: von fast 6 Mio. Ende 2009 auf weniger als 4,5 Mio. am 31. Dezember 2015; im Zivilbereich ist seit einigen Jahren eine Besserung erkennbar.
Mehr über die Verfahrensdauer in Europa und in Italien im EU Justice Scoreboard 2017.
GERICHTSKOSTEN / VERFAHRENSKOSTEN
Wird ein Zivilgericht zur Klärung oder Problemlösung eingeschaltet, muss der Kläger anfänglich eine je nach Streitwert pauschalisierte Summe einzahlen (sog. "Einheitsgebühr", it. "contributo unificato", die von 30 bis max. 1.100 € variiert).
Gutachterkosten werden ebenso während des Verfahrens den Parteien normalerweise zu je 50% auferlegt. Über vorgestreckten Gerichts- und Verfahrenskosten (und über die Anwaltskosten) entscheidet in Italien letztlich am Ende aber nur der Prozesserfolg: diese werden in der Regel der unterliegenden Pareti auferlegt.
Mit Beendigung eines italienishen Gerichtsverfahrens steht nämlich fest, ob der Prozeß gewonnen, verloren oder nur zum Teil Erfolg hatte. Dann trägt der Verlierer je nachdem die gesamten oder zumindest einen Teil der Kosten (Gerichts- und Anwaltkosten) des Gegners und natürlich seine eigenen.
Eine Kompensation (zu Deutsch: jeder muss die eigenen Kosten decken) ist allerdings durchaus nicht unüblich.
Zahlt der verurteilte Gegner nicht freiwillig, wird die Zwangsvollstreckung eingeleitet; ein neues Verfahren beginnt.
Allerdings: das Anwaltshonorar schuldet grundsätzlich eder Mandant, weil er Auftraggeber ist. Das gilt auch, wenn man den Prozeß voll gewonnen hat. Ist bei dem Schuldner/Gegner aber wegen einer Insolvenz/Pleite nichts zu holen, bleibt man auf den Kosten sitzen, es sei denn, die eigene Rechtsschutzversicherung springt ein (mehr dazu unter dem Link Anwaltskosten).
VERFAHRENSDAUER
Die Klageschrift samt Originalunterschrift des Mandanten muss dem Gegner zugestellt werden und auf der Geschäftsstelle muss eine Akte angelegt werden; das Gesetz gibt dafür strikte Fristen vor, un es dem Beklagten zu ermöglichen, seine Gegenwehr - also seinen Antrag auf Klageabweisung - su begründen.
Es ist ist dann überhaupt keine sichere Prognose mehr möglich, wie lange der Prozess voraussichtlich dauern wird. Beantragt der Beklagte mit einer Begründung die Klageabweisung, bekommt der Kläger wiederum Gelegenheit seinerseits darauf zu erwidern; die erste mündliche Verhandlung und deren Termin ist gesetzlich vorgegeben und wird nicht vom Gericht genehmigt.
Es folgen mehrere Verhandlungen, bei welchen die Parteien un eine Fristfestsetzung für die verschiedenen Anträge (so z.B. die Beweisanträge) bitten; es ist unbedingt su beachten, daß bei Verstreichen der jeweils vorgesehenen gesetzten Frist kein weiterer Vortrag der Parteien mehr zugelassen ist und danach als verspätet abgewiesen wird.
Abwesenheit oder Versetzung des Richters, Terminsüberschneidungen mit anderen feststehenden Gerichtsterminen, (taktische) Anträge der Gegenpartei, Ausfälle von Mitarbeitern der überlasteten / chronisch unterbesetzten Geschäftsstellen sind (nicht vorsehbare) Gründe einer Verschiebung der Gerichtsverhandlung.
BEWEISMITTEL
Um Recht su bekommen, muß man es fristgrecht beweisen können.
Kläger und Beklagter sind Parteien des Verfahrens und beide persönlich kein Beweismittel: sie (und diejenigen, die ein juristisch qualifiziertes Interesse am Ausgang des Streites haben) können daher nicht in einem Zivilprozess für sich selbst günstig aussagen (nemo testis in causa propria).
Was also auf keinen Fall geht und leider sehr häufig irrtümlich angenommen wird, ist die Meinung des Mandanten, dass man im Gerichtstermin mit der eigenen, lebhaften und treuherzigen Schilderung eines Geschehens, eines Lebenssachverhaltes oder seiner Geschichte den Prozess gewinnen kann.
Auch wenn noch so plausibel und ehrlich erzählt wird, wie sich etwas zugetragen habe, so dass einem die menschliche Logik quasi aufdrängt, "dass das dann ja nur so gewesen oder passiert sein kann", wird man den Prozess verlieren, wenn kein Beweis dazu, also Zeuge/Foto/Urkunde/Schreiben etc., dem Gericht vorgetragen und vorgelegt wird.
Es passiert also oft, dass der Kläger (ein ehrlicher und völlig unbescholtener Bürger, der sich noch nie etwas hat zu Schulde kommen lassen oder sonst wie auffällig geworden ist) sein Recht nicht bekommt, weil er es nicht beweisen konnte.
Es passiert genauso oft, dass abgebrühte Gegner dreimal chemisch gereinigte Zeugen präsentieren, die mit entsprechenden vorbereiteten falschen Aussagen den Prozess zu ihren Gunsten drehen.
Dagegen hilft dann auch der beste und teuerste Anwalt nichts, weil in Italien weder ein Lügendetektortest noch eine Bastonade (mittelalterliche Anhörungsform mittels Prügel) zugelassen sind.
Dann hat man schlichtweg Pech gehabt und muss mit dem Ergebnis zähneknirschend leben. Bedenken Sie bitte immer, das Gericht arbeitet tagein- tagaus stapelweise Aktenfälle ab. Ihr Fall ist so schnell vergessen, wie der letzte Wetterbericht.
Das Gericht beurteilt den Sachverhalt nur nach der o.a. Beweislage, und nicht danach, wer sich mehr ärgert oder wer in einem schlechteren Licht dargestellt wird.
Beweismittel sind z.B. Verträge, Pläne, Urkunden, Zeugen (fremde Dritte, Freunde, Bekannte, auch die eigenen Angehörigen, sogar der/ie Ehemann/frau).
Weiterhin Fotografien, Aufzeichnungen Dritter oder der Polizei, Gutachten, Atteste und Ortsbesichtigungen.
Das Gericht verlangt immer ladungsfähige d.h. vollständige Anschriften von Zeugen mit Name, Vorname, Wohnort, Postleitzahl; die Fragen müssen Monate vor der Anhörung von den Anwälten ausformuliert und vom Richter zugelassen werden; während der Anhörung kann in der Regel keine neue (dh. nicht bereits formulierte und zugelassene) Frage an den Zeugen gestellt werden.
Keine brauchbaren Zeugen sind der Knallzeuge oder der Zeuge vom Hörensagen.
Der typische Knallzeuge steht mit dem Rücken zum Unfallort - er kann also nichts beobachtet haben - und dreht sich erst dann um, wenn es hinter ihm zum Unfall gekommen ist,also geknallt hat (Knallzeuge eben)! Sie/Er sieht dann noch eine Radkappe herumkullern, schaut sich die rauchenden Trümmer an, und schließt dann messerscharf, was passiert sein könnte .. und meldet sich dann munter als Zeuge.
Der Zeuge vom Hörensagen war gar nicht selber dabei, und hat von dem zu beweisenden Geschehen von einem Beteiligten/Kläger/Beklagten oder einem anderen Dritten irgendetwas erzählt bekommen. Leider auch völlig unbrauchbar vor Gericht.
Ausländer haben erfahrungsgemäß besonders Schwierigkeiten, Beweismittel und Zeugen ausfindig zu machen und stoßen allzu oft an eine Gummimauer aus (krimineller) Solidarität für die ortsansässige Partei.
Falsche Zeugenaussage ist zwar strafbar, muss aber ebenso nachgewiesen werden.
Deshalb muss die Beweisführung genauestens und fristgerecht vorbereitet werden.